Immer wieder Herbst 1936
Wie immer reiste ich nur mit Handgepäck. Es war September 2018. Ich flog nach Kyjiv, fuhr dann mit dem Auto weiter westlich nach Zhytomyr und stand einige Tage später in dem Dorf, das meine Großeltern zuletzt 1936 gesehen hatten.
Binnen Tagen hatte sich mein leichtes Gepäck auf sonderliche Weise um ein Vielfaches erschwert. Teilweise konnte ich es erklären: Eine Plastiktüte voller wolhynischer Erde für meine Familie lag auf der Rückreise in meinem Rucksack. Zunächst unerklärlich blieb jedoch der restliche Ballast. Ich trage ihn bis heute mit mir, lasse hier eine kiloschwere Träne liegen, dort einen Gedanken fallen, der mit Wucht auf dem gefrorenen Steppenboden Kasachstans zerspringt. Dort, wo meine Großeltern ruhen oder unruhen, denn ihr Herz blieb für immer in der Ukraine. Je mehr ich das Mitgebrachte verteile in Gesprächen, auf Papier, auch mal beim Spazieren zwischen den Wolken, desto leichter wird mein Rucksack. Dabei wurde ich gar nicht deportiert, habe nie gehungert, keine Liebsten sterben sehen, wurde nicht geschlagen, erniedrigt, meiner Identität beraubt – all das haben meine Großeltern auf ihre Schultern geworfen bekommen. Weil sie Deutsche waren und Stalin mehr von ihnen hatte, wenn sie für ihn schufteten – irgendwo in Sibirien oder Kasachstan.
Meine Großeltern reisten nie. Plötzlich sollten sie ihr ganzes Leben mitnehmen. Es war September 1936. Und auch sie reisten nie: meine Eltern. Auch sie nahmen ihr ganzes Leben mit. Es war September 1992 und sie zogen mit mir und meinen Geschwistern nach Deutschland.
Wie sich die Geschichten wiederholen.
Wie sich Geschichte wiederholt.
Es ist Dezember 2022. Unschuldige verlieren ihre Heimat, ihre Liebsten, Frauen werden versklavt, Kinder in fremde Hände gereicht, nur fort von hier, wenn auch ins Ungewisse. Ich wünschte, wir würden lernen aus dem, was sich Geschichte nennt.