Leidenschaft Familienforschung
Emma rupft ein Huhn. Seit drei Tagen hilft die Zehnjährige ihrer Mutter beim Schlachten, Einkochen und Packen. Am Dienstag hieß es: In einer Woche müssen alle Deutschen nach Kasachstan. Emma weiß nicht, wo das sein soll. Sie kennt nur Gottliebsdorf in der Ukraine.
Papa ist mit Onkel Nathan vor ein paar Wochen von russisch sprechenden Männern in Uniform abgeholt worden. Wenn sie ihre Mama fragt, warum sie jetzt weg müssen und wo dieses Kasachstan sein soll, gibt diese nur weitere Arbeitsanweisungen.
Jetzt sind sie schon seit drei Wochen zusammen mit Nachbarn und Verwandten in einem langen Zug aus aneinander gereihten Viehwaggons unterwegs. Manchmal hält er tagelang, dann fährt er wieder lange Zeit, ohne stehen zu bleiben. Im Zug wird gekocht und Wäsche gewaschen.
Nach einem Monat kommen sie mitten im Nirgendwo der nordkasachischen Steppe an. Nirgendwo trägt den Namen „Dorf Nr. 28“, hier sollen die Deutschen aus der Ukraine bleiben. 20 Jahre lang, bis 1956, wird kein Deutscher den „Achtundzwanzigsten“ ohne offizielle Genehmigung verlassen. Doch das wissen zu diesem Zeitpunkt weder Emmas Mutter noch Stiefvater Malas. In ihrem leichten Sommerkleid steht Emma vor einer halb in die Erde gegrabenen Lehmbaracke ohne Dach. Es ist schon später Herbst, ein frostiger Wind kündigt den ersten Schnee an.
Dieses kurze Fragment habe ich vor zwölf Jahren verfasst, nachdem ich meine Tante Emma, eine damals noch lebende Schwester meiner Großmutter, interviewt hatte. Es ist das Erlebte, es sind Gerüche, Gedanken, Gefühle der Menschen, die mit mir verwandt sind, die für mich den Reiz an Familienforschung ausmachen – nicht Zahlen, nicht Verwandtschaftsgrade.
Wie ich mit dem Familienforschen anfing, was meine ursprüngliche Motivation war und welche Tipps Edwin Warkentin und ich für Menschen haben, die mehr über ihre Wurzeln erfahren möchten – das könnt ihr in einer unserer Steppenkinder Podcast-Folge hören.